Entwurzelt – Flucht aus Pommern -7-

 

Flucht aus Pommern

Vorwort | Liebeserklärung an Altwieck | Das Ende der Idylle | Das Grauen und die Barbaren | Der Familie entrissen | Die Odyssee | Lotte, liebe Lotte | Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck | Die neuen Herrscher | Die Flucht | Gen Westen | Das Wiedersehen | Die Sonne scheint wieder


Der Familie entrissen

Auf der Dorfstraße standen mehrere berittene Russen, andere mit Pferdewagen und Hunden. Wir wurden zum Ausgang Altwieck, letztes Haus Strehlow am Staatsforst, entlang dem Karnkewitzerweg getrieben. Hier standen schon eine Menge zusammengetriebener Menschen, alle aus den umliegenden Ortschaften. Es waren hauptsächlich junge Mädchen und junge Mütter, die ihre Kinder einfach zurücklassen mussten. Weinen und Jammern wurde von Schüssen übertönt. In der Menge entdeckten wir meine Tante Amanda aus Damerow, die Frau von Otto Schmidt, meines Vaters Bruder. Sie sah uns auch und winkte uns zu. Wir konnten aber nicht zusammenkommen, auch nicht miteinander sprechen. Keiner durfte seinen Platz verlassen. So versuchten wir immer wieder gegenseitig, uns mit den Augen zu suchen. Ohne sprechen setzte sich der Zug in Bewegung. Vorne und hinten berittene Russen, Russenwagen und Hunde in gleichen Abständen. Ein Ausrücken oder Zurückbleiben war unmöglich. 

Der Marsch ging stundenlang durch den Wald ohne jegliches Zeitgefühl. Ein stummer Zug, sprechen war verboten. Immer wieder Warnschüsse, wenn jemand nicht spurte oder das Weinen und Jammern zu laut wurde. Wir sahen, die meisten Mädchen und Frauen hatten sich genauso wie wir auch in schwarze, lange, Kleider gehüllt, um alt auszusehen. Es war ein trauriges Bild, ein Haufen schwarz gekleideter Großmütter. Einige konnten nicht mehr so schnell mitkommen. Die Füße bekamen in Folge der Holzpantoffeln oder zerrissener Schuhen, Blasen. Immer wieder schossen und schrien die Russen, wenn jemand mit dem anderen sprach oder nicht mehr laufen wollte. Es fing an zu dämmern, und immer noch marschierten wir.

Dicht neben uns fuhr ein Wagen mit einem jungen Russen besetzt. Wenn er nicht schaute, hielten wir uns immer am hinteren Wagenende fest. So ging das Gehen leichter. Wir merkten aber, dass der Soldat uns nicht anschrie, wenn er sah, dass wir uns festhielten. Er sah gutmütig aus. Es fing an dunkel zu werden und wir hielten uns immer noch an seinem Wagen ganz fest. Jetzt sprach er zu uns in gebrochenem Deutsch: „Ich bin Jude und muss jeden Tag Menschen zusammentreiben und zu den Abtransporten bringen!“. Weiterhin bemerkte er, dass es ihm selber leid tut und dass er uns helfen wollte. Er sprach sehr leise. Wir glaubten ihm zuerst kein Wort! Wir fragten ihn, wo wir hin sollten? Er erwiderte: „Alle kommen zum großen Bahnhof, werden in Güterwagen geladen und dann nach Sibirien“. Jetzt fingen wir an, ihm zu glauben! Leise wiederholte er immer wieder, dass er uns helfen wolle. Wir sollten auf seinen Wagen steigen und uns unter seiner Wagendecke verstecken. Wir taten es und stiegen im Dunkeln, unbemerkt, auf seinen Wagen, krochen unter eine warme Decke. Wir sahen in ihm einen Schutzengel und schliefen während der langen Fahrt ein. Der Morgen graute, wir saßen warm und erholt auf dem Wagen. Alle andern waren durch den langen, nächtlichen Fußmarsch mit ihren Kräften am Ende. Unser Beschützer wollte uns weiter fahren, als plötzlich russische Kontrollen kamen, die ihn und uns aus dem Wagen zerrten. Mit allen anderen wurden wir in ein Gebäude getrieben. Es war ein sehr großes Gebäude, in dem schon viele Menschen waren. Wir kamen in einen Raum, in dem schon dicht gedrängt die Menschen standen. Die meisten waren total erschöpft und voller Angst. Im Stehen konnte man schlafen. Zum Liegen war kein Platz, auch für die Notdurft nicht. Im Morgengrauen erkannten wir, die meisten waren junge Frauen oder Mädchen. Wenige Männer. Hier war auch meine Tante Amanda, aus Damerow. Wir konnten kurz miteinander sprechen. Tante Amanda flüsterte uns Hoffnung ein: „Sobald wir hier heraus kommen, laufen wir weg und verstecken uns“. Sie war eine tapfere Frau, die großen Mut bewies. Sie war viel älter als die jungen Mädchen und Frauen, auch hatte sie weiße Haare. 

Als es etwas hell draußen wurde, kam der Befehl: „Alle raus aus dem Gebäude und in einem langen Zug aufstellen.“ Der Marsch ging zu mehreren Gleisen, in der Nähe des Kösliner Bahnhofs, wo mehrere Güterzüge standen. Hier ging alles im Eiltempo. Einige alte Menschen mit weißen Haaren links raus, alle anderen wurden in die Güterwagen getrieben. Unser Waggon war so voller Menschen, dass keiner umfallen konnte. Meine Freundin und ich eng aneinander geschmiegt. Die Güterwagentüren knallten zu und wurden von draußen zugebunden. Ab ging die Fahrt ins große Ungewisse. Schon nach einer kurzen Strecke hielt der Güterzug. Durch die Ritzen sahen wir, wie wieder neue Menschen eingeladen wurden. So ging es die ganze Nacht. Warten, stillstehen und wieder kurze Zeit fahren. Hier im Waggon war jeder auf sich selbst gestellt. Kein lautes Wort, nur leises Flüstern und Angst. „Wo geht die Reise hin?“

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