Entwurzelt – Flucht aus Pommern -11-
Vorwort | Liebeserklärung an Altwieck | Das Ende der Idylle | Das Grauen und die Barbaren | Der Familie entrissen | Die Odyssee | Lotte, liebe Lotte | Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck | Die neuen Herrscher | Die Flucht | Gen Westen | Das Wiedersehen | Die Sonne scheint wieder
Die Odyssee
Kein deutsches Wort mehr. Fragen konnte man nicht beantworten. Nach einer Fahrt, die nicht sehr lange dauerte, landeten wir auf einem landwirtschaftlichen Großbetrieb, dem ehemaligem Gut-Schübben bei Zanow. Hier waren viele junge Menschen zusammengetrieben. In den großen Viehställen waren hunderte von Kühen angebunden. Auf den rundherum gelegenen Weiden waren noch viel mehr Kühe, die alle Maul- und Klauenseuche hatten. Sie schäumten aus dem Maul und ihre Euter waren rot und dick geschwollen. Sie gaben keine Milch, nur gelben Eiter. In den Ställen waren die weniger kranken Kühe, die alle noch Milch gaben. Da ich aus einem bäuerlichen Betrieb kam, begriff ich sofort die Lage, alle Kühe im Stall waren im Stall mit Maul- und Klauenseuche befallen!
Hier waren auch einige junge Mädchen aus Großstädten, die noch keine Kuh gemolken hatten. Unter ihnen war eine Schwester von Asta Gänger, aus dem Gut Büssow, mit der ich in der Landfrauenschule in Rügenwalde war. Jedes Mädchen bekam 15 Kühe zugeteilt, melken und ausmisten. Morgens und abends Stalldienst, dazwischen Feldarbeit. Unser Boss auf dem Feld war Blanko. Ein sehr großer, stattlicher Serbe mit zwei serbischen Adjutanten. Für die Stallarbeit war eine Polin unser Chef. Wir ahnten sofort, was hier im Stall auf uns zu kam! Wir Mädchen schliefen oben im ersten Stock im Gutshaus, auf Apfelrosten aus Holz. Hier war einmal Ost gelagert worden. Schnell hatten wir unter uns besten Kontakt, denn wir waren alle in derselben Situation. Wir fanden uns beschützt in einer größeren Gruppe und konnten uns gemeinsam Mut machen. Auch gingen wir gestärkt in den neuen Tag, der im Morgengrauen begann. Zuerst mussten wir im Stall ausmisten. Ein großer Ochse wurde vor eine Schlöp (einem alten Schlitten) gespannt. Ein junger italienischer Mann (er sagte mir, er sei Medizinstudent) musste das Gespann führen. Er und ich luden gemeinsam den Mist auf den Schlitten. Er sprach deutsch und war allen sofort gut gesonnen. Auch warnte er uns vor der polnischen Stallmajorin, die Peitschenhiebe verteilte. Irma Friedewald und ich, beide aus der Landwirtschaft, schafften mit viel Anstrengung, unsere 15 Kühe zu melken. Wenn die Luft rein war, half uns auch der italienische Student. Schlimm wurde es aber für die Mädchen, die noch niemals gemolken hatten. Trotz größter Anstrengung bekamen sie die Kühe nicht restlos ausgemolken und bekamen Peitschenhiebe über beide Waden. Wir Mädchen hatten alle Angst und auch Wut auf diese polnische Stallmajorin! Sie schikanierte uns im Stall, wo sie nur konnte und beschimpfte uns mit den schlimmsten Worten. Wir waren jedes Mal froh, wenn die Stallarbeit beendet war.
Wenn es morgens draußen hell wurde, gab es in einem großen Raum für alle hier arbeitenden Leute eine Art Frühstück. Jeder bekam ein dickes Stück trockenes Brot und einen Blechnapf heißer Milch. Da wir wussten, das alle Kühe krank waren, aßen wir nur das Brot. Aber nach ein paar Tagen war uns alles egal, wir tranken auch die heiße Milch. Danach wurden wir Blanko und seinen zwei Helfern zugeteilt. In Kolonnen marschierten wir dann auf das Feld. Die Feldarbeit unter Blanko war für uns reine Erholung. Er und seine beiden Mitarbeiter waren menschlich zu uns. Sie waren freundlich und trieben uns nicht zur Eile an. Blanko brachte uns oft ein Stück Brot mit! Abends ging es dann zurück in den großen Kuhstall und dieselbe Prozedur begann. Ich war immer froh, wenn ich vor dem warmen Kuheuter saß und es schaffte, meine 15 Kühe auszumelken. Oft mit Hilfe des italienischen Studenten! Ich war jedes Mal froh, wenn die Stallmajorin ohne Peitschenhiebe bei mir vorbei marschierte. Wir hörten aber oft im anderen Stall die Peitsche knallen. Weinen, Schreie und lautes Toben. Einige Mädchen hatten öfter rotblaue Striemen über beide Waden. Unsere Stallmajorin hatte ihre wahre Freude, alle Macht gegen uns auszuleben. Sie trug lange schwarze Stiefel zur ordengeschmückten Uniform und konnte mit ihrer Peitsche Bogen schlagen. Wenn es ganz dunkel war, stiegen wir im ersten Stock des Hauses zum Schlafen auf unsere Lattenroste. Gemeinsam machten wir uns Mut, mit dieser Person abzurechnen. Wir unterhielten uns noch ein bisschen. Wo waren unsere Familien? Wo waren meine Freundin und wo war Anneliese? Der Schlaf erlöste uns von allen Gedanken.
Im selben Rhythmus ging es viele Tage weiter. Wir bekamen großen Heißhunger auf ein normales Essen, als immer nur Brot und kranke Milch! Auf dem Feld fand ich ein altes Kochbuch, ich nahm es mit, um den Mädchen vorm Einschlafen schöne Gerichte vorzulesen. Nachdem ich ein paar Gerichte vorgelesen hatte, wäre ich fast verprügelt worden. Alle rasteten total aus und meine Vorlesung wurde sofort beendet. Wir beruhigten uns alle und beschlossen gemeinsam, sollten wir noch einmal unsere Freiheit erleben, unser Wunsch war nur noch zu essen, essen und nochmals zu essen. Jeden Tag wurden jetzt verirrte Kuhherden in der weiteren Umgebung eingefangen. Alle Tiere wurden hier zum Sammelplatz gebracht. Die umher liegenden Wiesen waren voller Kühe. Blanko erzählte uns, dass die Russen in einer Waldschneise eine große Kuhherde entdeckt hätten. Wir Mädchen mussten mitfahren, um die Kühe einzufangen. Blanko fuhr unseren Wagen. Nach einer langen Fahrt hörten wir schon das Gebrüll der Tiere. Wir sahen eine sehr große Herde Kühe. Alle Tiere waren in größter Not. Sie saßen auf einer Insel im Moor fest. Mit Stöcken und Rufen wollten wir die vielen Tiere zum fortgehen bewegen. Die Russen hatten alle hohe Stiefel an, sie sackten schon nach einigen Metern ein. Es war ein grauenvolles Bild, die traurigen Augen der Tiere zu sehen, die schon bis zum Hals im Moor saßen. Viele Tiere waren bis an den Bauch im Moor und sackten langsam immer tiefer ein. Es gab überhaupt keine Möglichkeit, die Tiere hier herauszuholen. Jetzt fingen die Russen an, in die Menge zu schießen, aber die Tiere waren so verängstigt, sie sackten immer tiefer ein. Bei vielen Kühen schauten nur noch die Köpfe mit den unsagbar traurigen Augen heraus. Blanko gab den Befehl nach Hause. Diese Fahrt hatte keinen Erfolg für die Russen, denn keine einzige Kuh wurde mitgebracht. Uns Mädchen aber stand dieses unsagbar traurige Bild noch lange vor Augen.