Entwurzelt – Flucht aus Pommern -6-
Vorwort | Liebeserklärung an Altwieck | Das Ende der Idylle | Das Grauen und die Barbaren | Der Familie entrissen | Die Odyssee | Lotte, liebe Lotte | Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck | Die neuen Herrscher | Die Flucht | Gen Westen | Das Wiedersehen | Die Sonne scheint wieder
Das Grauen und die Barbaren -3-
Im Garten blühten die Schneeglöckchen. Wir pflückten einen Strauß und legten ihn in Tante Kempins Hände. Cousine Hanni sprach ein Gebet und hielt eine Andacht. Tante Kempin war nicht nur in unserer Familie, sondern auch im ganzen Dorf Altwieck wegen ihrer Liebe und Güte bekannt. Die Strenge ihres Mannes, viele Jahre Lehrer im Ort, milderte sie mit Verständnis immer für die Schüler ab. Auf ein Eichenbrett, darüber ein weißes Lacken, betteten wir sie. Mit Schneeglöckchen schmückten wir sie. Nun kam aber die große Frage: „Wo begraben wir sie?“ Wieder kamen Rudi und Heinz gelaufen: „Ab, ab. Neue Russen kommen auf unsern Hof.“ Wir wieder auf den Backhausboden. Mein Vater blieb bei Tante Kempin. Als sie die Leiche sahen, suchten sie nicht mehr nach Frauen. Alle verließen fluchtartig das Haus. Ein Offizier mit einem Dolmetscher kamen und gaben meinem Vater den Befehl, innerhalb von zwei Stunden die Leiche auf dem Friedhof zu begraben! Wir bekamen Entwarnung und durften unser Versteck verlassen. Jetzt überlegten alle im Hause, wie der Befehl befolgt werden konnte. Bis zum Friedhof, in Abtshagen, waren es zwei bis drei Kilometer. Die Jungen mussten ein räudekrankes Pferd fangen. Überall, ich sagte es schon, liefen kranke Tiere herum. Mit Stricken und Draht, alle Sattel und Zaumzeuge waren restlos gestohlen, wurde vor einen zusammengesuchten Russenwagen das kranke Pferd gebunden. Tante Kempin, ebenfalls mit Stricken in ein weißes Leintuch auf ein Eichenbrett gebunden. Wir hoben sie auf den Wagen und banden sie dort fest. Nun kam die Frage: wer sollte mitgehen? Von uns Mädchen, auch von den Frauen, wagte es keiner, auf offener Straße die Strecke bis zum Friedhof mitzugehen. Mein Vater führte das wilde Pferd vor dem Karren. Meine Cousine Hanni, eine sehr tapfere Frau und Mutter von fünf kleinen Kindern, verkleidete sich als ganz altes Mütterchen. Sie sagte: „Ich gehe mit und begleite meine tote Tante und helfe meinem Onkel.“ Ein sehr trauriger Leichenzug setzte sich in Bewegung. Unser Hofhund Bello hörte in seinem Versteck wohl etwas bekanntes. Er raste laut kläffend hinter dem Zug hinterher. Das kranke Pferd war wohl so erschrocken. Es raste los, alle Stricke rissen. Auch der Wagen riss auseinander! Das Eichenbrett mit Tante Kempin flog im hohen Bogen in den Dorfteich vor unserm Hof. Wir alle schauten durch eine Torlücke, aber keiner hatte den Mut, auf die Dorfstraße zu gehen. Mein Vater und Hanni holten die Jungen zur Hilfe und fischten das schwimmende Floß unversehrt aus dem Teich. Sie vollbrachten ein wahres Wunder. Das wilde Pferd wurde ruhig, es ließ sich wieder vor den erneut zusammengebundenen Karren binden. Wir alle kamen so schnell wir konnten aus unseren Verstecken, um die schwere Eichenbohle mit Tante Kempin auf den Karren zu heben. Zusammen schafften wir es. Wir jungen Mädchen und auch die Frauen verließen fluchtartig die Dorfstraße. Nach langer Arbeit des Festbindens gelang es tatsächlich. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Stricke hielten! Vorne, den Kopf des Pferdes haltend, ging mein Vater, dann hinter dem Leichenkarren eine alte, hinkende Frau mit zwei Spaten als Krückstöcke. Es war ein sehr trauriges Bild. Wir Mädchen, auch alle Frauen, flüchteten in unsere Verstecke. Heinz und Rudi mussten wieder Wache halten. Um meinen Vater und um Hanni waren wir in großer Sorge. „Hoffentlich kommen beide gesund und schnell nach Hause? Und hoffentlich kommen keine Russen?“ Wir hatten großes Glück, spät in der Nacht kamen beide unversehrt heim. Auch wir waren vom Russenüberfall verschont geblieben. Beide erzählten uns von der langen Fahrt bis zum Abtshagener Friedhof.
Unterwegs waren mehrere Russenwagen an ihnen vorbeigefahren. Als die Stricke rissen und sie lange Zeit stillstehen mussten, um sie zu knoten, hielt nur ein Wagen an. Typhus, schnell die Toten in die Erde. Jetzt erst begriffen mein Vater und Hanni, warum alle Russen so schnell an ihnen vorbei fuhren. In Altwieck, unserm Dorf, bestand Typhusgefahr. Neben unseren Familiengrabstätten gruben beide mit ihren mitgebrachten Spaten eine Grube. Oben im Glockenstuhl des Kirchturmes saß unser Herr Pastor mit seinen Angehörigen im Versteck. Er war ein sehr guter Freund unserer Familie. Von dort oben konnte er den ganzen Friedhof überschauen. Er erkannte meinen Vater und meine Cousine und kam herunter zu ihnen. Neben gegenseitigem furchtbarem Bericht über das Geschehene hoben sie gemeinsam das Grab aus, was sehr lange dauerte. Weiterhin berichteten sie uns von der kurzen Andacht und einem Gebet am Grabe unserer lieben Tante Kempin. In großer Angst, von den Russen entdeckt zu werden, ließen sie das Pferd einfach laufen und den Wagen vor dem Friedhof stehen. Der Pastor eilte zurück in sein Versteck im Glockenturm und mein Vater und meine Cousine suchten sich einen Weg durch die Felder und Wiesen zurück zu uns, wo sie in der Nacht unversehrt ankamen.
Unser angstvolles Warten hatte Gott sei Dank ein Ende gefunden. Im Haus war Ruhe eingekehrt, alle erholten sich etwas von all den Aufregungen. Das schöne Frühlingswetter und die vielen Frühlingsblumen im Garten ließen uns für kurze Zeit alles vergessen. Immer wenn kein Alarm war, genossen wir die warmen Sonnenstrahlen. Nachbarn berichteten uns von neuen Russentruppen, die Mädchen und Frauen suchten und mitnahmen. Heuschober, Scheunen und Kaffböden würden abgesucht und mit Bajonetten durchstochen. Viele junge Leute wären schon abgeholt, nur ganz wenige seien noch im Dorf. In unserem Versteck, im Kaff über der Waschküche, hatte uns bisher keiner gefunden. Auf dem Backhausboden war es zu unsicher. Unsere Angst, gefunden zu werden, war groß. Die Angst, erstochen zu werden, trieb uns immer öfter aus dem Kaffversteck. Unsere Eltern waren in größter Sorge, besonders um uns junge Mädchen.
So passierte es an einem Frühlingstag! Wieder hieß es, die Russen sind am Dorfeingang, diesmal mit Wagen und Hunden.
Wir beide versteckten uns schnell. Da beide Verstecke zu gefährlich waren, sagte mein Vater: „Kriecht aufs Feld.“ Das taten wir. Hinter unserem Backhaus war unser Feldweg, der geradeaus bis zu unserem Wald führte. Zu beiden Seiten waren unsere Felder. Hier waren auch lange Kartoffel-, Rüben- und Wruckenmieten. Wir krochen unseren Feldweg entlang, etwa 500 m, in die erste erreichbare Miete. Am hinteren Ende war sie schon geöffnet, da schon einige Wagen Rüben nach Hause gefahren waren. Stroh und Erde hatten einen Hohlraum gebildet, in den wir hineinkrochen. Mit Händen und Füßen kratzten wir uns tief hinein. An einer Seite machten wir ein kleines Loch, um hinaus zu schauen. Von hier aus konnten wir, am Hof vorbei, über den B.D.M. Garten – das Land hatte mein Vater uns Altwiecker Mädchen zur Verfügung gestellt – auf die Dorfstraße blicken. Wir sahen, wie Russen mit Hunden über den Zaun sprangen. Ein Trupp lief auf unsern Hof. Ein Trupp lief, vom B.D.M. Garten, durch die große Obstwiese, durchs Backhaustor, auf unseren Feldweg. Die Hunde liefen den Feldweg entlang, die Russen hinterher. Sie zielten genau auf die Mieten zu. Metas Herz schlug so laut, dass auch ich in Panik geriet. Wir saßen eng umschlungen und sahen die Gefahr direkt auf uns zukommen. Wir fingen an zu beten: „Lieber Gott hilf uns.“ Wir hörten schon von weitem: „Paninka hotsch“! Die Hunde stöberten uns auf und die Russen holten uns aus der Miete heraus. Wir heulten und flehten. Es gab kein Erbarmen. So zogen sie mit uns ab. Der Russentrupp, die Hundemeute und dazwischen wir zwei jungen Mädchen. Zusammen trieben sie uns unseren Feldweg herunter, durch unser Backhaustor, auf unser Haus zu. Wir versuchten ihnen zu erklären: „Unsere Eltern wissen nicht, wo hin ihr uns treibt, wir müssen es ihnen sagen. Wir haben nichts Warmes zum anziehen, wir frieren und brauchen auch was Essbares von zu Hause!“ Wir brachten es fertig, dass sie mit uns nach Hause kamen. Hier, in unserem Haus war totales Chaos. Meinen Vater hatten die Russen mitgenommen. Total verstört sahen wir meine Mutter, Bruder und Rudi inmitten von Russen. Sie weinten und flehten: „Wo ist unser Vater?“ Erst jetzt sahen sie uns inmitten von anderen Russen und Hunden. Meine Mutter umarmte uns, sie hielt uns ganz fest und wollte uns nicht mehr loslassen. Sie flehte und sie bat: „lasst die Mädchen hier, unseren Vater haben sie schon mitgenommen!“ Es gab kein Erbarmen, wir waren vogelfrei und durch kein Gesetz geschützt. Wir sollten verschleppt werden, wie viele andere schon vor uns. Ein russischer junger Offizier sprach gebrochen deutsch, er ließ Menschlichkeit walten und erlaubte uns, warme Kleider anzuziehen und etwas Essbares mitzunehmen. Wir zogen von unseren Großmüttern lange Kleider an, darüber schwarze, lange Mäntel um alt auszusehen. Alles musste sehr schnell gehen. Keine Verabschiedung, kein Blick zurück. So ging es im Eiltempo zu Fuß, raus aus unserem Elternhaus.