Entwurzelt – Flucht aus Pommern -19-

 

Flucht aus Pommern

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Die Flucht

Den folgenden Tag brauchten wir, um uns warm anzuziehen. Den Kindern zogen wir mehrere Garnituren übereinander. Die schlechtesten und Zerlumptesten oben drüber. Hanni zog mehrere Kleider über ihren, bisher noch geretteten, einzigen Pelzmantel. Eine alte zerlumpte, lange Kittelschürze zog sie oben drüber. Ich zog ebenfalls alles doppelt und dreifach übereinander. Über meine neuen Schaftstiefel, die mein Vater mir zum 18. Geburtstag nach Maß hatte arbeiten lassen, zog ich eine alte, lange, zerlumpte Hose. Die blanken Stiefel beschmierte ich mit Lehm und Kuhmist, um sie unansehnlich zu machen. Sie waren mein allerletztes Wertvolles, alles andere hatten die Russen mir gleich beim Einmarsch gestohlen.

Hannis Geldscheine nähten wir in alle Kindermützen und unsere Strumpfhalter ein. Den Goldschmuck in eine ganz alte, schmutzige Stoffpuppe, die Ilse um den Hals gehängt bekam. Sie sollte sehr laut weinen, wenn jemand sie ihr wegnehmen sollte. Nun musste Reiseverpflegung besorgt werden. Hanni wusste auch Rat. Jedes Kind bekam eine Blechmilchkanne (2 Liter) mit folgendem Inhalt in die Hand: Unten gebratenes Huhn, darüber Schweineschmalz, und obendrauf Rübensirup. Wir bekamen alte Säcke in die Hände mit Brot, Papieren und Trinkbarem. Den Rücken mussten wir frei haben, für Ermüdung der beiden kleinsten Mädchen. Nun konnte unsere Flucht beginnen. Es war eine kalte Novembernacht. Der Mond gab uns Licht. Wir gingen schweigend durch unsere Wiesen, vorbei an unserem, einst so geliebten Familienbesitz. Wir wussten, unsere Eltern waren in Gedanken bei uns. Sie beteten für uns und wir beteten für sie. 

Im Mondschein gingen wir schweigend unseren Feldweg hoch, zu beiden Seiten unsere Weizenfelder, bis Bahnwärterhäuschen Penke. Wir kannten ja jeden Weg auf unserem Feld. Zu beiden Seiten unseres Feldweges waren unsere Weizenfelder. Der Mond gab uns Licht. Beim Bahnwärterhäuschen Penke verließen wir unser Feld. Wir gingen auf dem Radfahrweg, dicht neben den Bahngeleisen, bis zur Altwiecker Viehrampe. Gleich dahinter war der Altwiecker Bahnhof. Nach langem Warten fuhr ein langer Güterzug ein. Die Lokomotive hielt direkt neben der Viehrampe.

Auf den ersten Güterwagen hinter der Lokomotive sprangen wir, durch die wenig geöffnete Waggontür, ins Innere. Die beiden kleinen Mädchen hatten wir auf dem Rücken. Die drei größeren Kinder drückten wir zuerst hinein, wir mit großer Gewalt hinterher. Wir waren drin. Wir hatten es geschafft. Der Zug fuhr ab. wir flüchteten aus unserer Heimat!

Dicht gedrängt standen die mitfahrenden, flüchtenden Menschen, im Viehwaggon. Es waren die gleichen Hungergestalten wie wir, mit verlodertem Luxusgepäck, schon halb geplündert. Die Menschen waren alle voller Angst, ob wieder Partisanen mit eingestiegen waren. Wir hörten von mehreren schrecklichen Überfällen auf der Fahrt von Altwieck. Wir nahmen unsere Fünf Kinder ganz eng in unsere Mitte, um sie vor weiteren Überfällen zu schützen. Kinderwagen waren im Waggon, die von zerstörten Müttern geschunkelt wurden, andere stillten ihre Babies. Kein einziger Mann war mit im Waggon, nur ein paar alte Opas. Jeder brütete so vor sich her, stumm ergeben in das Unabänderliche, in das wir uns alle begeben hatten. 

Bevor wir in Köslin einfuhren, im Waldgebiet Gollenberg, verlangsamte sich die Fahrtgeschwindigkeit bis fast auf den Nullpunkt, nachdem ein irrsinnig lautes Pfeifkonzert von der Bahnböschung zu uns herauftönte. Der Lokomotivführer wusste nun, dass er das Tempo verlangsamen musste, damit ein Heer von polnischen Partisanen, die Überzahl Frauen, Gelegenheit hatten, den Güterzug zu erklimmen. Lokomotivführer und Partisanen steckten alle unter einer Decke, bestimmt bekam er seinen Teil vom Raubzug ab. Was jetzt begann, war die Hölle. Die Menschen schrien und weinten und wehrten sich vergebens gegen diese brutale Meute. Mit Gewalt bahnte sich diese Räuberbande den Weg durch die dicht aneinander sitzenden und stehenden Flüchtlinge, nicht ein einziger blieb ungeschoren. Hanni rissen sie ihr Handgepäck aus den Händen, den Kindern alle Wollmützen vom Kopf, so dass wir das eingenähte Geld in den Kindermützen los waren. Meine Schürze, und darunter meinen Wollmantel, rissen zwei polnische Partisanenfrauen mir vom Leib. Auf meinem Finger entdeckten sie einen Ring, den sie auch mit aller Brutalität nicht vom Finger bekamen. Es war ein sehr schmaler Goldreif, Talisman von meinem Vater, den ich seit meiner Konfirmation nicht vom Finger gezogen hatte. Es begann ein brutaler Kampf um diesen Ring. Ich wurde geschlagen, mit Stiefeln getreten und mit großer Gewalt am Finger gerissen. Der Ring wollte nicht vom Finger. Hanni war Nothelfer, sie konnte etwas polnisch und redete auf beide Polinnen ein. Mit Spucke bekommt man den Ring runter. Tatsächlich der Ring löste sich und beide Polinnen griffen nach ihm und ließen von mir ab. Nicht ein einziger blieb von diesen Räubern ungeschoren. Diese Bande nahm alles, was sie stehlen konnte. Wir hatten begriffen! Der Mensch zählte auf diesem Güterzug nichts!

Der Zug setzte sich in Bewegung, der Lokomotivführer gab ein Pfeifkonzert, alle Räuber sprangen aus dem ausgeräuberten Zug. Alle ausgeraubten Flüchtlinge, mit Säuglingen im Kinderwagen und Kindern wie wir, beruhigten sich nach langem Weinen und Schreien. Wir hatten überlebt!

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