Entwurzelt – Flucht aus Pommern -21-
Vorwort | Liebeserklärung an Altwieck | Das Ende der Idylle | Das Grauen und die Barbaren | Der Familie entrissen | Die Odyssee | Lotte, liebe Lotte | Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck | Die neuen Herrscher | Die Flucht | Gen Westen | Das Wiedersehen | Die Sonne scheint wieder
Die Flucht -3-
Jetzt sahen wir weit in der Ferne eine Menschenkette. Beim näher herangehen sahen wir, es waren auch Hunde dazwischen. Die Soldaten hatten uns längst erspäht und einige kamen uns schon abholen. Es waren polnische Soldaten. Wir waren kurz vor der polnischen Grenze. Zur russischen Zone mussten wir erst mal durch diese polnische Kontrolle. Ein Haufen polnischer Soldaten bildeten einen Kreis um uns, zwei Erwachsene und fünf Kinder. „Wo sind die Papiere, sonst alle zurück.“ Hanni kramte aus ihrem Brustbeutel ein Stück Papier heraus, ausgestellt noch von der polnischen Kommandantur in Göritz und gab es ihnen. Sie gaben es uns nicht zurück, schauten es gar nicht an und sagten sogar freundlich zu uns: „Gute Reise, sie können passieren!“ Wir trauten dieser Freundlichkeit nicht und marschierten weiter. Nach 50 oder 100m die zweite polnische Soldatenkette mit Hunden dazwischen. Dasselbe noch einmal. „Papiere abgeben! Sofort! Wo sind die Papiere?“ Hanni erklärte es ihnen auf polnisch. Ihren Kameraden, die sie noch sehen und fragen konnten, hätten wir schon unsere Papiere abgegeben. Die Nachfrage endete mit „hier keine Papiere abgegeben.“ Wir konnten uns nicht wehren, wir waren machtlos! Vogelfrei! Wir wurden als Lügner beschimpft, denn wir hätten die polnischen Soldaten belogen und den polnischen Staat diskriminiert. Ihr Befehl war: zurück, ins polnische Arbeitslager. Zwei bewaffnete Soldaten marschierten mit uns zurück in ein Sammellager. Hier arbeiteten mehrere verängstigte Menschen, keiner sprach mit dem anderen. Hanni und die fünf Kinder wurden zur Küchenarbeit eingeteilt. Ich zur Stall- und Feldarbeit. Die polnische Küchenchefin war ab sofort Hanni und den Kindern gut gesonnen. Sie war ein Mensch, der helfen wollte. Sie holte auch mich in die Küche, und wir durften so viel warme Suppe und Brot essen, bis wir gesättigt waren. Ich musste von morgens bis abends auf dem Feld arbeiten, und nachts schliefen Hanni, die Kinder und ich zusammen in der Scheune im Stroh.
Durch die polnische Küchenchefin erfuhr Hanni, dass alle Feldarbeiter hier im Straflager festgehalten wurden. Wir bekamen große Angst, getrennt zu werden. Auf keinen Fall ließen wir uns auseinanderreißen. Hanni hatte einen gemeinsamen Fluchtplan. Ich tat genau das, was sie mir sagte. Am nächsten morgen, bei der Feldarbeit, markierte ich einen Schwächeanfall. Hinfallen, zittern, den Atem anhalten und steif machen. Hanni brachte inzwischen in der Küche ein Gerücht in Umlauf, dass ich syphiliskrank sei und höchst ansteckungsfähig. Ich müsste sofort in ein Krankenhaus. Die Küchenchefin gab dieses Gerücht ihrem Vorgesetzten weiter. Dieses Gerücht half uns in unserer misslichen Lage. Ich lag noch an der Erde, als polnische Soldaten kamen, mich zwangen aufzustehen und gaben den Befehl, schnell ab, schnell weg, alle! Frau, Paninka, d.h. ich und fünf Kinder, alle schnell hinaus. Wir bekamen noch zwei Brote unter den Arm und wurden regelrecht weggejagt. Wir nahmen unsere Kinder in unsere Mitte und marschierten zusammen ins Ungewisse. Richtung Westen.
Erst nach längerem Marsch schauten wir zurück, uns verfolgte niemand. Hinter einer Anhöhe machten wir eine Pause und lachten und drückten uns gegenseitig über unseren Erfolg, wir waren raus aus dem polnischen Arbeitslager und endlich raus aus der polnischen Zone. Nach längerem Marsch gesellten sich mehrere orientierungslose Flüchtlinge zu uns. Zwei russische Soldaten griffen uns auf und brachten uns in ein russisches Auffanglager. Das Lager war riesengroß, voll belegt mit nicht weiter gekommenen Flüchtlingen. Dicht neben der Tür ergatterten wir noch einen Schlafplatz. Hanni ließ uns, ihre müden Krieger, hier sitzen und ging alleine in den Ort, etwas Essbares zu ergattern. Auf diesem Streifzug sah sie einen sehr dickbäuchigen Russen neben einer Gulaschkanone stehen. Neben ihm lag ein Haufen klitzekleiner Kartoffeln. Als sie ihn anbettelte, sagte er „da, da“. Sie kam mit einem Sack Futter für uns zurück. Draußen, um das Lager herum, hatten Flüchtlinge sich Erdlöcher gegraben, einen Rost darüber, um Kartoffeln zu garen. Hier konnten auch wir unsere Kartoffel garen und wir alle wurden gesättigt.
Hier im Sammellager waren Alte, Verstümmelte, Blinde und Amputierte, Kranke in Fahrstühlen, Omas und Mütter mit Kindern mit großen hungrigen Augen. Dazwischen standen laut johlende Helden der russischen Besatzungsmacht. Dazwischen, noch lauter, das Gedudel eines Leierkastens, wie zum Hohn in dieser Elendssituation. Nachts suchten hier die russischen Soldaten immer noch junge Frauen und Mädchen. So schnell wir konnten flüchteten wir gen Westen. Nach längerem Fußmarsch landeten wir auf einem kleinen Bahnhofsgelände, in der Nähe von Torgelow, nicht weit von Friedland. Wir warteten auf irgend einen Zug Richtung Berlin. Hier warteten schon mehrere Menschen tagelang vergebens. Sie warnten uns, sie hätten entsetzliche Nächte hinter sich, mit Vergewaltigungen und Beraubungen. Die Züge, die vorbeifuhren, waren hoffnungslos überfüllt. Menschentrauben außen am fahrenden Zug. Kein Zug hielt an. Hanni, unser Ratgeber, gab uns den Befehl: „Sofort marschieren wir weiter, immer an den Bahnschienen entlang bis zur nächsten Station, Richtung Berlin!“ Kaum, dass wir 200 m losmarschiert waren, kamen uns flüchtende Menschen entgegen und riefen uns zu, drüben ist eine große Schießerei. Also ganze Abteilung kehrt und landeinwärts ausgeschert auf eine Landstraße. Wir fanden ein leerstehendes Bauernhaus und verbrachten dort ungestört und ausgeschlafen die Nacht. Am nächsten Morgen erfolgte unser zweiter Anlauf Bahnhof Torgelow. Hier hielt tatsächlich ein Zug, voller Menschen. In welche Richtung der Zug fuhr, wussten wir nicht. Hanni drängte sich mit größter Kraftanstrengung in den Wagen, riss das Fenster herunter, ich reichte ihr die drei Mädchen hoch, sie zog sie mit letzter Kraft hinein. Beide Jungen und ich blieben auf dem Trittbrett stehen, als der Zug sich in Bewegung setzte. Wir drei hielten uns krampfhaft mit beiden Händen fest, wir hatten alle Blickverbindung, auch Hanni und die drei Mädchen. War das ein Glücksgefühl, wir alle sieben standen, innen und außen, in einem fahrenden Zug. Unserem Glücksgefühl folgte ein Riesenschreck. Der Zug fuhr in die falsche Richtung, zurück gen Osten. Was nun?
Bei einem Bahnwärterhäuschen hielt er an. Das Fenster öffnete sich, ein Russe in Uniform schaute raus, hob den Arm hoch und schrie, „da Berlino.“ Mit einem Affenzahn jagte der Zug jetzt in die entgegengesetzte Richtung. Uns war ein Stein vom Herzen, dass wir doch auf dem richtigen Dampfer saßen. Das große Tempo des Zuges schleuderte die Menschen im Zug gegen die Zugwände und uns draußen gegen den Fahrtenwind. Mit aller Kraft mussten wir uns festhalten. Erst als das Tempo herunterging, konnten wir uns wieder orientierten. Eberswalde war erreicht. Es folgte BERLIN, PANKOW, SCHÖNHAUSEN. Wir stiegen aus, wir hatten unser erstes Ziel erreicht. In Pankow, Florastraße 22, wohnten Hannis Eltern, (meine Tante Ida und Onkel Reinhold). Dort suchten wir Unterschlupf. Als wir die Florastraße heruntergingen, waren wir sehr erleichtert. Immer öfter kam ein Lächeln in unsere Gesichter. Wir wurden fröhlich und konnten auf einmal wieder lachen. Doch die Wohnung Florastraße 22 war verschlossen, von Russen besetzt. Wo waren Hannis Eltern, meine Tante, mein Onkel? Die langjährigen Nachbarn von ihnen gaben uns total Verwahrlosten ein Notquartier. Sie hatten wohl Mitleid mit uns, denn unser Aussehen war abstoßend. Wir waren wochenlang ungewaschen, verlaust und ausgehungert. Unsere Bekleidung, die Kinder in rotkarierten Bettbezügen und ich im abgerissenen, alten Schwalbenschwanz, war gespenstisch. Ein großes DANKESCHÖN an diese Nachbarn. Sie berichteten uns, dass beide nach Zörbig, zu Hannis Schwester (meine Cousine Trudchen), die dort eine Arztpraxis hatte, geflohen seien. Sie berichteten auch, wie groß ihre Sorge um uns, ihre Familie in Altwieck in Pommern, sei. Die Gewissheit, dass alle leben, war im Moment das Wichtigste. Wir fielen erst mal in einen langen erholsamen Schlaf. Der nächste Morgen brachte uns eine so große freudige Überraschung, die an ein Wunder grenzt. Meine Tante hatte sich vor Sorge um uns mit einer Cousine auf den Weg nach Pankow zu ihrer Wohnung gemacht. Sie wusste, Florastraße 22 ist russisch besetzt. Beide Cousinen hatten einen Fußmarsch von 4 – 5 Stunden von Schöneberg bis Pankow hinter sich. Über Geröll und Halden von verboomten Unrat mussten die steigen. Verkehrsmittel gab es wegen der Zerstörungen in den Straßen noch nicht. Vor ihrem Haus Florastraße 22 sahen sie 5 Kinder laufen. Meine Tante sagte zu ihrer Cousine: „Schau mal, jetzt haben die Russen schon ihre Kinder mitgebracht. Schau mal wie zerlumpt sie aussehen.“