Entwurzelt – Flucht aus Pommern -17-

 

Flucht aus Pommern

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Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck -3-

Sie sah unsere Notlage und half auf der Stelle. Sie gab Anweisung, den Oberkörper tief zu lagern, Unterkörper ganz hoch, alle paar Minuten eiskalte Umschläge. Das taten mein Vater und meine Tante bis zum Morgengrauen für mich, und ganz langsam ging es mir besser. In dieser Nacht haben wir noch mehr beten und danken gelernt. Bis zum Melken musste meine Tante im Kuhstall in Damerow sein. Kein Russe durfte von ihrer nächtlichen Hilfestellung wissen. Ganz alleine ging sie durch den 2 – 3 km langen, dunklen Damerower Wald zurück. Sie hatte keine Angst. „Hilft man in Not, wird man vom Herrgott beschützt“, das war ihre Devise. Die nächsten Tage und Nächte wich mein Vater keine Minute von meinem Bett. Mein Zustand besserte sich aber sehr langsam. Irma war wohl in ihr Elternhaus geflüchtet, wir haben sie nie mehr gesehen. Heinz und Rudi mussten zurück nach Göritz, meiner Mutter und Cousine Hanni alles berichten. Sie mussten ja erst von den Russen in Göritz, von ihrem Kuhstalleinsatz, nach Altwieck entlassen werden. Inzwischen kehrten unsere neben uns wohnenden Nachbarn Wetzels zurück. Frau Wetzel, Marta, war die Cousine meiner Mutter.

Ihr Mann war von den Russen verschleppt. Durch Zufall hatte sie erfahren, dass er todkrank in einem Graben, vor Schlawe, unserer Kreisstadt, gefunden wurde. Sie brachte es fertig, ihn lebend auf einer Karre nach Hause zu holen. Sie besorgte Essbares, kochte ihm Kraftbrühe, um seinen kraftlosen Körper zu stärken. All ihre Mühe half nicht mehr. Ihr Mann Artur Wetzel, unser lieber Nachbar, verstarb noch in der selben Nacht. Marta war total hilflos und voller Angst. Mein Vater gab ihr Beistand und beide beschlossen, mich in Arturs Bett zu holen. Beide stützten mich und wir drei schafften den Weg bis in Arturs Bett. Herr Schröder war erleichtert, mich zusätzlichen Störenfried los zu sein. Mein Vater war jetzt unser beider Helfer. Marta wurde ruhiger, denn sie war nicht alleine. Alles was sie für Artur gekocht hatte, bekam ich zu essen. Arturs Bett war warm, weich und groß und ich erholte mich langsam. Nach ein paar Wochen ging es mir, dank Vaters und Martas Hilfe, bedeutend besser. Jetzt wurden meine Mutter, Heinz und Rudi, Hanni und die Kinder von der russischen Kommandantur in Göritz, nach Hause in das total ausgeräuberte Altwieck getrieben. 

Mein Vater fing wieder an, in unserem Elternhaus Ordnung zu schaffen. Ein Zimmer und die Küche machte er bewohnbar. Die russische Kommandantur gab jetzt den Befehl, „alle Altwiecker raus aus Göritz“, zurück in das ausgeplünderte Dorf Altwieck. Meine Mutter kam mit den ersten zurück. Sie war total abgemagert und krank, sie hatte die Ruhr, dauerhaften Durchfall mit Blut. Mein Vater brachte sie sofort ins Bett. Er gab ihr geriebene Holzkohle als Medizin. Ich konnte meine Mutter nicht besuchen und sie mich auch nicht. Mein Vater war unser Vermittler. Er hatte jetzt drei Frauen zu betreuen. Dazu erkrankte auch mein Bruder an Rar. Er bekam von meinem Vater dieselbe Medizin, zerriebene Holzkohle. Nach paar Tagen kam meine Cousine Hanni mit ihren fünf Kindern, zu Fuß aus Göritz zurück. Sie kamen in der Nacht an und brachten eine hoch tragende Kuh mit, die sie den Russen, unter großer Gefahr, einfach weggenommen hatten. Diese Kuh verstecken mein Vater und Hanni sofort in einer abgelegenen Scheune, beim Nachbarn Bollmann. Da unser großer Hof immer zuerst ausgeräubert wurde, war die Kuh dort sicherer. 

Das war ein Wiedersehen mit meiner Cousine Hanni, allen fünf Kindern, meinen Eltern, Heinz, Rudi und mir! Wir waren dem Herrgott dankbar, alle lebend im Elternhaus zu sein. Hanni war nicht nur eine Mutter Courage, sie war ab jetzt unsere Mutmacherin und eine Fachfrau, was Krankheiten anbetraf. Sie übernahm ab sofort Pflege und Hilfe. Sie war Ansprechpartner für alle in unserer Familie. Ihren fünf Kindern war sie mehr als eine Mutter Courage. Am nächsten Tage kalbte Hannis mitgebrachte Kuh. Sie und mein Vater schlachteten das Kälbchen und kochten Suppe für alle. Ein großes Problem, ohne Salz, keinerlei Geschmack. Hanni wusste Rat. In einem alten Pökelfass war noch etwas Salzlauge, sie war Salzersatz. Jetzt bekamen alle Suppe und Milch von der frisch gekalbten Kuh. Die Ruhrkranken nur geriebene Holzkohle und abgekochtes Wasser. Mit der Kapitulation am 8. Mai hatte die Brutalität und Unmenschlichkeit immer noch kein Ende gefunden. Immer noch kamen Russengespanne zum Räubern und Mädchensuchen auf unseren Hof. Meine Eltern lebten in größter Angst, besonders um mich. Wo sollten sie mich verstecken, wenn ich von Wetzels zurückkam? Meine Cousine wusste Rat! Ein unauffälliges Versteck musste gefunden werden. Sie zog mit ihren fünf Kindern in ein ganz kleines unauffälliges Häuschen, wo die Bewohnerinnen, die zwei Schwestern Mille und Guste, verstorben waren. Dies wurde auch unser aller Versteck, wenn es auf unserem großen Hof zu gefährlich wurde. Rudi war auch sehr tapfer, er fuhr mit den Russenwagen zum Brotholen mit. Auf der Rückfahrt ließ er immer ein Brot für uns herunterfallen. Er ging zu Fuß nach Neuwasser und kam mit einem Beutel frischer Fische zurück. Er passte auf wie ein Luchs und gab uns allen Bescheid, wenn Gefahr im Anzug war. Ich war jetzt soweit genesen und ging durch unsere große Obstwiese nach Hause ins Elternhaus. Mein Vater und Rudi passten auf, dass keine Russen im Anzug waren. War das ein wunderbares Wiedersehen! Mutter und Tochter sahen sich nach so langer Zeit wieder. Wir beteten zusammen und waren dem Herrgott sehr dankbar. Meine Mutter war bettlägerig und durch ihre Ruhrkrankheit sehr geschwächt. Mein Bruder lag ebenfalls an Rar im Bett. Wenn Räuberwagen auf unseren Hof fuhren, gab Rudi ein Zeichen und ich lief sofort durchs alte Backhaus, durch unsere Wiese, in Hannis Versteckhäuschen. Wir alle fingen jetzt an, uns andauernd zu jucken und zu kratzen. Wir hatten alle Kopfläuse. Wir lausten uns gegenseitig. Gegen diese große Läuseplage waren wir einfach machtlos. Im Holzstall hatte mein Vater einen Schmalztopf vergraben. Nach langem Suchen fand er ihn wieder. Um die Läuse abzusticken, schmierten wir alle eine dicke Schicht Schweineschmalz auf unsere Haare. Darüber banden wir ein festes Tuch was wir Wochenlang nicht abnahmen. Das Haareauswaschen war ein Kunststück. Mit aufgebrühtem Holzkohlenwasser gelang es etwas. Nach kurzer Zeit waren aber unsere Plagegeister wieder bei uns. In unserer Scheune fanden wir eine Flasche Petroleum, die wir ebenfalls auf unsere Haare schmierten. Nach furchtbarem Kopfhautbrennen gaben wir unseren Kampf gegen die Läuseplage auf. Wir juckten uns die Kopfhaut oft blutig. Auch stellten sich bei uns Mangelkrankheiten ein, aus Mangel an Vitaminen. Ich bekam z.B. die uns fremde „russische Krätze.“ Auf beiden Schienbeinen bildeten sich offene Stellen, die nicht mehr zuheilten. Es bildeten sich Eiterbeulen, die sich über den ganzen Körper verstreuten. Zwischen den Fingern, allen Weichteilen, an der Brustwarze, kam eine eiterwässerige Flüssigkeit heraus. Mein Vater war schwer angesteckt, Hanni und alle Kinder ebenfalls. Wir hatten kein Heilmittel gegen diese „russische Krätze“. Im Nachbarort Wandhagen, so erzählten uns Nachbarn, gebe es einen Heiler, den wir in unserer Notlage aufsuchten. Dort sahen wir ein Bild des Grauens. Eine lange Schlange „russischer Krätze“ kranker Menschen wollte dort ebenfalls Hilfe haben. Mein armer Vater stand auch unter ihnen. Er hatte es uns verschwiegen, wie schlecht es um ihn stand. Er war im festen Glauben, „syphiliskrank“ zu sein. Mit dieser Last hatte er wochenlang gelebt. Jetzt erst sprach er sich bei uns aus. Wir konnten ihn beruhigen. „Vater, du hast, was alle hier in der Schlange stehenden Menschen, auch Hanni und ich, haben: Die fremde ,russische Krätze’“. Er war trotz allem erleichtert.

Der Heiler gab allen anstehenden Menschen eine kleine Handvoll grünen Tee. Den sollte man aufbrühen und den kranken Körper damit abwaschen. Wir erkannten sofort, es waren Ligusterblätter von einer Ligusterhecke, ein reiner Bluff. Immer mehr Menschen in unserem einst so schönen, friedlichen Dorf Altwieck starben. Viele an Rar, Typhus und an geschwächtem Immunsystem. Das Leben in unserem Dorf wurde von Tag zu Tag härter.

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