Entwurzelt – Flucht aus Pommern -27-

 

Flucht aus Pommern

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Die Sonne scheint wieder

Unsere Hochzeit war am Heiligen Abend in der Christuskirche in Marne. In vollbesetzter Kirche. Es war kein Laut zu hören, Lottchen sang für uns das Ave Maria. Herr Superintendent Heerberger hielt eine herzergreifende Predigt. Wir, meine Eltern, Tante Amanda und Familie, Erika und Georg, die Schwester und der Schwager meines Mannes (sie waren extra aus Hannover gekommen), waren einfach überwältigt. Es kamen viele Gäste, darunter auch der Marner Gärtnermeister Emil Scholz mit all seinen Lehrlingen.

Der Marner Gärtnermeister Emil Scholz, wo mein zukünftiger Mann Arbeit bekommen hatte, sagte zu seinen Lehrlingen: „Heute heiraten Maria und Joseph“, beide arm wie Kirchenmäuse. Ihr bekommt einen freien Tag, wenn ihr ihnen, jeder von euch, eine große Torte bringt! Seine Bitte wurde von allen Lehrlingen eingehalten. Alle Torten standen auf der Festtafel und viele Getränke dazu. Ein älteres Ehepaar stellte uns unentgeltlich einen Raum in ihrem gepflegten Restaurant, direkt neben der Christuskirche, zur Verfügung. Es wurde eine sehr schöne, sogar sehr fröhliche Hochzeitsfeier.

Hier ein paar Angaben zu unserer Hochzeitsgarderobe: Der Bräutigam hatte sich einen Holzfaseranzug aus Jute nähen lassen. Ich als Braut trug ein schwarzes Seidenunterkleid, das Mantelfutter aus Lottchens Wintermantel heraus getrennt. Ein Moskitonetz, schwarz gefärbt, das mein Mann aus der Gefangenschaft mitgebracht hatte, war mein Oberkleid. Mein Vater ein großer, stabiler Mann, trug eine geliehene Anzugsjacke von einem Schneidermeister, 80 Pfund schwer, aus Ostpreußen. Da es seine Brust aber nur halb bedeckte banden wir ihm ein weißes Schimisett unter. Solange mein Vater ganz still saß, war alles OK. Bei dem Brauttanz aber passierte das Malheur! Die Jacke riss vom Kragen bis zum Steißbein in zwei Hälften.

Lottchen wollte nun uns beide sehr gerne in ihrem Haus behalten. Sie schätzte meinen Mann und war ihm sehr gut gesonnen. In seiner Freizeit sollte er ihr Hausmeister werden. Als ich schwanger wurde, trat Funkstille zwischen Lottchen und mir ein. Erst nach mehreren Tagen bat Lottchen uns um ein gemeinsames Gespräch. Sie hatte einen sehr ernstzunehmenden Vorschlag für uns. Sie wollte unser Kind adoptieren, sie war finanziell abgesichert und konnte es standesgemäß erziehen und ausbilden lassen. Wir bekamen von ihr eine Bedenkzeit, die wir beide als überglückliche Eltern sofort mit einem gemeinsamen „NEIN“ ablehnten. Auf keinen Fall wollten wir Lottchens Freundschaft missen, und auf keinen Fall wollten wir, dass sie durch uns traurig wurde. Mein Mann fand bei einem Altsitzerpaar, Familie Doose in Marne, Königsstraße 46, ein großes Zimmer (dicht an Lottchens Gymnasium, ihrem Arbeitsplatz), Mit Gefangenensachen, alten Gummistiefeln und Moskitonetzen tauschte er ein Kinderbettchen und zwei Drahtbetten und einen Tisch ein. Unser Zimmer wurde immer schöner, und am 8. Mai wurde es, mit der Geburt unser Tochter, unser Paradies.

Einen großen Karton mit schönen, neuen Babykleidern fanden wir vor unserer Tür mit einem Zettel obendrauf, „bitte NICHT danken.“ Eine ganze Woche lieferte uns diese nette Familie Doose das Mittagessen. Wir durften ihren Garten mitbenutzen und unser Kind hineinstellen. Sie gaben uns ein Stückchen Land, wo wir fünf Hühner und einen Hahn halten durften, hatten jeden Tag ein frisches Frühstücksei. Meine Eltern kamen täglich zu uns und freuten sich sehr über ihr gesundes Enkelkind und brachten immer etwas Essbares mit. Der Marner Gärtnermeister Scholz brachte uns oft Gemüse und ließ uns Erdbeeren nachpflücken. Wir wurden eine glückliche Familie. Die Taufe unserer Tochter war in der Marner Christus-Kirche, die Taufpaten meine Cousine Hanni aus Lindau am Bodensee, und Lottchen Thomsen aus Marne. Liebe, sehr ehrenhafte, verlässliche Menschen haben wir in Marne kennen lernen dürfen. Die holsteinische Mentalität gleicht unserer pommerschen. EIN GROSSES DANKESCHÖN.

Pastor Meinhof aus Damerow in Pommern hatte durch Zufall nach seiner Flucht eine Pfarrstelle in Inden im Rheinland bekommen. Seine Familie war schon in Damerow mit Tante Amandas Familie eng befreundet. Vier Kinder hatte Familie Meinhof durch Krieg und Vertreibung verloren. Ihr Indener Pfarrhaus war groß, und sie holten sofort Tante Amandas Familie und kurze Zeit später auch unsere ganze Familie ins evangelische Pfarrhaus, nach Inden, ins Rheinland. Da das Rheinland nicht so übervölkert mit Flüchtlingen war, waren hier auch bessere Arbeitsmöglichkeiten. Mein Mann bekam sofort bei einem Indener Bauunternehmer Arbeit und schulte als Maurer um. Ich bekam sofort in einem großen Textilwerk Arbeit. Mein Bruder in einem großen landwirtschaftlichen Betrieb. Mein Vater arbeitete stundenweise bei mehreren Bauern. Meine Mutter versorgte unser Töchterchen. Wir kauften 1000 qm Bauland. Als mein Chef im Textilwerk von unserem Bauvorhaben hörte, schenkte er uns eine große, zerbombte Werksruine. Dieses Geschenk war für meinen Mann, als Fachmann, die Aufforderung zum sofortigen Baubeginn. Für alle Innenwände reichten diese fast neuen Ringofensteine. Mein Mann wurde ein wunderbarer, sehr fleißiger Bauherr, wir seine Handlanger. Neben seiner Arbeit, nach Feierabend, baute er für uns, seine Familie, IN ZWEI JAHREN ein schönes neues HAUS. Unser Töchterchen bekam ein eigenes Zimmer. Beiderseitige Eltern und mein Bruder ein neues ZUHAUSE. Das war absolute HÖCHSTLEISTUNG. EIN GROSSES DANKE an diesen BAUHERREN.

Nach einer unendlich langen „ODYSSEE“, nach KRIEG, FLUCHT und VERTREIBUNG, von ALTWIECK in POMMERN, STETTIN, BERLIN, FRIDLAND, FRANKFURT am Main, OBERSTAUFEN in Bayern, LINDAU am Bodensee, MARNE in Holstein, hatten wir, GOTT SEI‘S GEDANKT, ein eigenes Dach über dem Kopf. Ein eigenes ZUHAUSE, in INDEN im RHEINLAND, BUCHENWEG 10. 

 

MAIKÄFER FLIEG,
DEIN VATER IST IM KRIEG,
DEINE MUTTER IST IM POMMERLAND, 
POMMERLAND IST ABGEBRANNT,
MAIKÄFER FLIEG.

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