Entwurzelt – Flucht aus Pommern -5-

 

Flucht aus Pommern

Vorwort | Liebeserklärung an Altwieck | Das Ende der Idylle | Das Grauen und die Barbaren | Der Familie entrissen | Die Odyssee | Lotte, liebe Lotte | Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck | Die neuen Herrscher | Die Flucht | Gen Westen | Das Wiedersehen | Die Sonne scheint wieder


Das Grauen und die Barbaren -2-

Alles ging ganz schnell. Alle im Haus flüchteten in andere Häuser. Mein Vater wusste für uns beide Mädchen, Meta – meine Freundin – und mich, ein sicheres Versteck. Über unserer Waschküche auf dem Kaffboden ganz tief unter dem Kaff, hatte er ein Versteck schon lange vorbereitet. Meine Freundin und mich versteckte er jetzt dort oben. In zwei Wolldecken gehüllt krochen wir beide im Dunkeln unter den Dachboden tief ins Kaff. Unser Haus wurde noch in der selben Nacht besetzt, was keiner so schnell erwartet hatte. Uns beiden jungen Mädchen konnte mein Vater davon keine Nachricht mehr geben. In mitten vieler Russen lagen wir beide in diesem Versteck. Kein Vater, wie versprochen, brachte uns etwas zu Essen und zu Trinken! Wir hörten ab jetzt nur noch fremde Stimmen, Hufe und Schüsse. Immer wieder hielten wir den Atem an, um etwas von unseren Eltern zu hören. Aber kein einziges deutsches Wort mehr. Je länger wir warteten, desto unheimlicher wurde uns. Uns knurrte der Magen, unser Mund war ganz trocken und uns war es kalt, sehr kalt. Wir krochen eng zusammen, um uns gegenseitig zu wärmen. Mehrere Nächte und Tage waren zeitlos, von Angst erfüllt. Nur auf das Horchen konzentriert. Nach mehreren Tagen und Nächten verharrten wir immer noch in dem selben Zustand. Unser körperlicher und geistiger Zustand verschlechterte sich zusehends. Das ewige Warten auf das Erscheinen meines Vaters zermürbte uns. Das Schießen machte uns Angst, noch mehr das ewige hin und her laufen der Russen in unserer Waschküche. Sollten sie die kleine Luke entdecken, wir wären verloren. Was war nur mit unseren Eltern, Hanni und Kindern, Tante Kempin und allen Nachbarn geschehen? In den Nächten ließen uns die Gedanken nicht mehr zur Ruhe kommen. Metas Herz raste neben mir so sehr! Panik erfasste auch mich. Wenn es aussetzt, was mache ich alleine? Was? Uns war übel auch vor Hunger und Durst. Wieder musste es Morgen sein. Durch die Dachziegelritzen kam etwas Helles hinein. Unter uns unsere Waschküche mit einem Zementboden, beide Türen weit aufgerissen und Russenstiefelgetrampel hin und her. Plötzlich hörten wir leise Rufe von unten. Die Stimme meines Vaters, auch die leise Stimme von Tante Kempin, die er als Schutz mitgenommen hatte. Sie riefen leise: „Heute Abend müsst ihr ausrücken. Wir erwarten euch beim Nachbarn Dettbarn. Habt ihr verstanden?“ Wir sagten Ja.

Danach keine deutsche Stimme mehr! Wir zwei belebten und begannen, genaue Fluchtpläne zu schmieden. Es war dunkel, wir standen auf – spürten unsere Beine nicht mehr. Sie wollten uns einfach nicht mehr tragen. Nach langem, kräftigem Reiben und Bewegen kam Leben hinein. Wir mussten, um nach unten zu kommen, durch eine Luke springen. Unten, hinter dem großen Kartoffeldämpfer wollten wir uns verstecken. Wir zogen unsere Strümpfe über unsere Schuhe damit es nicht so laut auf dem Zementboden schallte. Nun aber, wer sprang zuerst? Metas Herz schlug so laut und schnell. Sie konnte nicht. Also musste ich zuerst, um ihr helfen zu können. Wir hörten die russischen Posten zwischen den Pferden hin und her gehen. Zwischen den Abständen musste der Sprung gelingen – und ich sprang. Ich kroch sofort auf allen Vieren hinter den großen Kartoffeldämpfer. Der Posten schrie im gleichen Augenblick. „Stoj, Stoj!“ Er lief mit seiner Laterne durch die Waschküche, dicht vor dem Dämpfer vorbei, er sah mich nicht. Ich wagte nicht zu atmen und saß lange still. Meine Freundin saß noch oben, starr vor Angst. Es wurde still. Nach langem Warten und Horchen kroch ich zu ihr unter die Luke. Sie sprang auf meine Schultern und glitt leise an mir herunter. Wir warteten den Zeitpunkt ab und krochen durch die geöffnete Tür, direkt in die nebenan liegende Jaucheröhre. Alle Jauche floss in dieser Rinne auf die große Wiese außerhalb des Hofes. Dieser Weg war die einzige Fluchtmöglichkeit. Wir waren stinkend nass und es war eiskalt. So krochen wir zu dem Treffpunkt. Dort angekommen stand der Nachbar, den mein Vater eingeweiht hatte, vor seiner Scheunentür. Er flüsterte uns vor, „schnell, schnell, hier hinein. Mein Haus ist voller Russen. Sie suchen Mädchen.“ Wir schlichen hinein in die Scheune. Das Scheunentor fiel zu. Wir zitterten. Wir waren am Ende. Nichts im Magen, nass, stinkend und eiskalt. Wir tasteten herum, um irgendetwas wärmendes zu finden. Es war stockdunkel und wir ertasteten einen Sack mit Kaff. Wir krochen hautnah zusammen und schütteten den vollen Sack über uns aus. Diese Nacht war eine der allerschlimmsten, da wir total unterkühlt waren und nicht warm wurden. Draußen hörten wir Russen schießen und schreien. Wir aber mussten ganz still sein und durften nicht um Hilfe rufen. Diese Nacht war unendlich lange. Wir mussten jedes Geräusch vermeiden, und die Scheune war voller Geräte. Beim Morgengrauen öffnete mein Vater leise das Scheunentor. Wir lagen direkt vor dem Tor und hatten es nicht bemerkt. Er legte seinen Finger vor den Mund. Leise schlichen wir in das Haus hinein oben auf den Speicher in ein warmes Bett. Er gab uns ein warmes Getränk und etwas zu Essen, er hatte warmes Wasser, damit wir uns waschen konnten. Wir schliefen danach so fest ein, so dass ab hier ein Zeitabschnitt in meiner Erinnerung fehlt. 

Als mein Vater uns weckte, erzählte er uns von vielen, russischen Truppenteilen, die durch unser Dorf gezogen waren. Auch alle Pferde und Soldaten seien abgezogen! Er war so erleichtert, dass er uns beide durch seine Verstecke retten konnte. 

Hier im Haus unseres Nachbarn Dettbarn waren meine Eltern, mein Bruder, Rudi, Cousine Hanni mit ihren fünf Kindern (Ulrich, Hartmut, Kathrin, Christine und mein Patenkind Ilse) und Tante Kempin einquartiert. Auch andere Nachbarn waren dort. Alle wagten, aus dem Fenster zu schauen und vor das Haus zu gehen. Die Stille belebte und ein befreites Aufatmen begann. Die Straße, die Wiesen, alles was wir sahen, war ein Bild der größten Unordnung und Zerstörung. Unrat, totes Vieh, gekochtes Fleisch, Papiere, Kleider, Wagen, alles lag wild durcheinander. Wild gewordenes lebendes Vieh raste vorbei. Leute kamen und berichteten die furchtbarsten, grausigsten Berichte.

Mitten zwischen den Übernachteten hatte sich ein Mann erhängt. In Neuwieck eine Frau am Baum. Magdalenes Vater, Onkel Franz, wurde in Damerow von dem Bruder meines Vaters, Otto Schmidt, tot aus dem Mühlenteich gefischt. Auf dem Neumannshof, unseren Nachbarn gegenüber, hatte sich Grauen und unbeschriebenes Verbrechen abgespielt. Große Russenhorden hatten dort gehaust. Mittendrin die junge Frau Neumann. Sie war tot. 

Diese Tatsachenberichte, deren Anzahl sich laufend erhöhte, machten uns noch angstvoller. Die plötzliche Stille ließ uns alle nichts Gutes ahnen. Wir alle gingen auf unsern Hof zurück. Hier waren wir zu Hause, nur hier kannten wir uns aus! Mein Vater wollte uns beiden jungen Mädchen sofort im alten Versteck, über der Waschküche, verstecken. Wie sah unser Haus aus! Nicht wieder zu erkennen! Haus, Hof und Ställe, ein Chaos. Alle Kühe, alle Pferde waren raus aus allen Ställen. Schweine und Ferkel liefen wild durch die Gegend. Hühner, Gänse, Puten, Katzen und andere Tiere, waren alle verwildert. Viele saßen in Verstecken. Türen und Fenster waren eingeschlagen und zum Teil ausgerissen. Wir versuchten, die Küche und ein paar Zimmer bewohnbar zu machen und zu beheizen. Zuerst musste Tante Kempin versorgt werden. Sie bekam dicht neben dem großen Kachelofen, im Esszimmer, ein warmes Bett. Sie war sehr dankbar auch für die kleinste Hilfe. Kurze Zeit kehrte Ruhe ein und wir konnten mal ausschlafen. Die nächste Nacht aber wurden wir nicht von Russen überrascht, sondern vom lauten Wiehern aus unserem leeren Pferdestall. Mein Vater, mein Bruder und Rudi schlichen mit einer Lampe zum Pferdestall. Sie trauten ihren Augen nicht. Unsere Fohlenstute Lisa war heimgekehrt. Sie wieherte sehr laut, sie zitterte am ganzen Körper, mit ihren Hufen schlug sie Funken! Wir weinten vor Freude und wollten sie alle lieb haben, aber sie ließ keinen an sich heran. Nachdem sie Futter und Wasser bekam, wurde sie etwas ruhiger und sie ließ sich nur von meinem Vater streicheln. Sie spürte, dass sie hier zu Hause ist. Im Morgengrauen fuhr ein Russenwagen auf unseren Hof. Ziel war unser Pferdestall. Mit Gewalt versuchten sie, Lisa aus dem Stall zu holen. Vergebens! Jetzt bekam sie Schläge, sie schrie herzzerreißend. Aber aus dem Stall bekamen die Russen unsere Lisa nicht. Jetzt legten sie Stricke um ihre Fesseln die sie an den Russenwagen banden. Mit größter Gewalt wurde sie so auf den Hof geschleppt. Mit brutalen Schlägen wurde sie zum Aufstehen gezwungen. Mit Galopp rasten sie vom Hof. Lisa im Schlepptau hinterher. Wir hatten hinter dem Fenster alles mit angesehen. Uns stockte der Atem und wir waren so traurig, dass wir noch nicht einmal richtig weinen konnten. 

Mein Vater stellte Wachen an der Straße auf. Rudi und Heinz mussten aufpassen, wann Russen kommen. Sie konnten die lange Dorfstraße weit entlang schauen und uns rechtzeitig Nachricht geben. Es dauerte nicht lange, da kamen beide angelaufen: „Schnell, schnell. Wagen mit Russen kommen auf unsern Hof.“ Wir alle in größter Eile auf den Backhausboden. Hinter unserem Haus und Garten stand ein altes, großes Backhaus und eine Gerätescheune. Zwischen beiden war eine offene Tordurchfahrt, dahinter unsere Felder. Oben waren Eichenbohlen, aus unserem Wald, zum Trocknen gestapelt. Dort oben legten wir uns rauf und warteten auf Entwarnung. Meine Mutter war bei Tante Kempin geblieben, sie hatte so schnell kein Versteck gefunden. Ihr erging es wie allen Frauen, auch älteren und alten Frauen, in unserem Haus. Sie fielen alle den Horden zum Opfer. Wir saßen sehr lange oben auf den Bohlen. Mein Vater gab uns beiden erst Entwarnung, als absolute Ruhe eingekehrt war. Im Haus erneute Spuren der Ausräuberung. Totales Chaos. Meine Mutter und die anderen Frauen waren total verzweifelt. Zwischen den weinenden, verzweifelten Frauen lag Tante Kempin. Die Hände gefaltet. Sie war gestorben. Wir standen schweigend an ihrem Bett. Sie sah ganz friedlich aus, als dankte sie dem Herrgott. Er hatte sie erlöst.

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