Tabuthema Tod
Am 8. Juni 1992, einem Pfingstmontag, starb mein Vater. Ich war damals 28 Jahre alt. Meine Mutter rief morgens völlig aufgelöst an und erzählte, dass er einen Autounfall auf dem Weg zur Arbeit hatte. Meine Reaktion war so heftig, dass die Nachbarn klingelten und fragten, ob was passiert sei. Danach stand ich irgendwie nur noch neben mir, funktionierte wie eine Maschine. Ich erinnere mich noch, wie heiß dieser Monat war. Alle Verwandten und Freunde kamen im Haus meiner Mutter zusammen. Man versammelte sich drinnen oder im Garten und weinte und versuchte sich gegenseitig zu trösten.
Es war für mich eine unwirkliche Atmosphäre. Alle waren sie da und saßen einträchtig zusammen. Selbst die, die sich sonst aus dem Weg gingen. Fast hätte es eine große Familienfeier sein können. Nur einer fehlte. Ich konnte und wollte es einfach nicht glauben, dass er nicht mehr wieder kommt. Heute (2012) bin ich 48, so alt wie er damals. Mir ist erst jetzt voll bewusst, wie jung er eigentlich war.
Der Tod meines Vaters war nicht das einzige einschneidende Ereignis in diesen Wochen. Wir feierten kurz vorher die Hochzeit meines Bruders, mein Sohn wurde geboren und nach meinem Vater starb auch mein Opa, der Vater meiner Mutter. Als er schon unheilbar krank war, besuchte er uns einmal. Über seinen Krebs wurde meistens nie geredet, ich wusste zu diesem Zeitpunkt auch nicht, wie schlimm es schon stand. So versuchte ich, ein Gespräch mit ihm aufzubauen, wollte ihn irgendwie trösten. Leider brachte ich nur Blödsinn heraus. Mein Opa reagierte entsprechend abweisend auf meinen verzweifelten Versuch. Die Situation war für uns beide sehr unangenehm.
Mit 13 Jahren erlebte ich den ersten Todesfall innerhalb der Familie, als auch die Mutter meiner Mutter an Krebs starb. Ich hatte ein sehr inniges Verhältnis zu ihr und brauchte Jahre, um ihren Verlust zu überwinden. Ihre Krankheit wurde vor uns Kindern bis zuletzt weitgehend geheim gehalten, und auch danach sprach man möglichst nicht über ihren Tod.
Heute denke ich, dass die Probleme in solchen Situationen eher normal sind, denn der Prozess des Alterns und Sterbens ist bei uns - im Gegensatz zu anderen Kulturen – ein Tabu. Mit todkranken Menschen wissen wir nicht recht umzugehen. Der einfachste Weg scheint, einfach nicht darüber zu sprechen. Der Gedanke an das nahende Ende wird so lange wie möglich verdrängt. In der Regel „überbrücken“ dann mutmachende Smalltalks die Zeit, bis wirklich nichts mehr geht. Das ist natürlich sehr menschlich. Und dann, wenn alle Beteiligten dem Tod im wahrsten Sinne des Wortes in die Augen blicken, ist meist vieles wirklich Wichtige ungesagt geblieben.
Sterben findet heute im verborgenen statt, im Krankenhaus, im Altenheim. Einzig der Leichenwagen, der uns von Zeit zu Zeit auf der Straße begegnet, erinnert uns schaudernd daran, dass da etwas ist, was wir erfolgreich aus unserem Leben verbannt haben - unser unausweichliches Ende. In jungen Jahren denken wir nicht ans Sterben. Es gibt so viel wichtigeres auf unserem Weg des Lebens. In der Blüte dann sind wir auf dem Gipfel angelangt. Ab jetzt geht es nicht mehr nach oben, den unendlichen Himmel vor Augen. Nein, auf der anderen Seite des Berges können wir jetzt zum ersten Mal das Ende unseres Weges erkennen. Irgendwann dann merken wir, dass unser Abstieg zunehmend an Fahrt gewinnt – die Zeit fängt an zu rasen. Vor Angst unfähig nach vorn zu blicken, richten wir voller Verzweiflung unsere ganze Aufmerksamkeit nur noch auf die schönen Dinge am Wegesrand, in der Hoffnung, sie mögen uns vom immer näher kommenden Ende des Weges ablenken. Aber nichts und niemand rettet uns letztendlich davor anzukommen, und wir müssen dem Tod doch ins Auge blicken.
Für unsere Angst vor dem Sterben gibt es vielerlei Gründe:
- Das schöne Leben, das man geführt hat, ist zu Ende. Man kann nicht mehr teilhaben an der Welt.
- Verlustängste: wir werden von denen, die wir lieben, getrennt.
- Angst vor körperlichen Schmerzen vor und während des Sterbens.
- Die Angst vor dem Vergessenwerden
- Die Ungewissheit: kommt da noch etwas, gibt es wirklich ein Leben nach dem Tod?
Man braucht sich nichts vorzumachen: am Ende unseres Lebens wartet die größte Herausforderung, der wir je gegenüber gestanden haben. Und wir werden sie in der alles entscheidenden Stunde ganz allein meistern müssen.
Ob oder was uns danach erwartet, darum geht es auf den weiteren Seiten.